Machnig kritisiert Verfassungschutzbericht

Freiheit & Sicherheit

In einem Beitrag für die Thüringische Landeszeitung (TLZ) kritisiert der stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Matthias Machnig den vor wenigen Tagen vorgestellten Verfassungsschutzbericht scharf. Machnig wirft Innenminister Geibert und der Behörde in dem Bericht Verharmlosung und überholte Denkstrukturen vor.

Den kompletten Beitrag „Ideologie statt Aufklärung - trotz NSU bleibt der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind.“ gibt es hier zu lesen.

Ideologie statt Aufklärung - trotz NSU bleibt der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind.

- zum Verfassungsschutzbericht 2012 des Thüringer Innenministeriums

Von Matthias Machnig, stellvertretender Vorsitzender der SPD Thüringen

Die Sicherheitsarchitektur versagt noch immer: Im Jahr eins nach dem Auffliegen der NSU-Zelle, dieser rechtsextremistischen, mordenden, freiheits- und verfassungsfeindlichen Terrorzelle, die ihren Ursprung in Thüringen hat, geht noch immer regelmäßig rechte Gewalt von Thüringerinnen und Thüringern aus. Am 18. Juli 2013 starb im bayerischen Kaufbeuren ein Mann aus Kasachstan in Folge eines brutalen Angriffs von sieben Neonazis. Unter den Mördern waren mindestens zwei Thüringer. In der Nacht zum 21. Juli 2013 haben zwei Zeitsoldaten Feuerwerkskörper in den Hinterhof des Asylbewerberheims in Arnstadt geworfen, die Bewohner beschimpft und den Hitlergruss gezeigt.

Rechtsextreme Gewalt findet unter anderem auch deshalb weiterhin statt, weil der Verfassungsschutz rein gar nichts aus den NSU-Morden gelernt hat. Das jedenfalls muss man aus dem gerade vorgestellten Verfassungsschutzbericht schließen. Das Dilettieren, Wegschauen und Verharmlosen geht weiter, nicht selten hat man den Eindruck, dass Polizei und Verfassungsschutz ihren Aufgaben nicht gerecht werden. Sowohl beim Mord in Kaufbeuren als auch bei der nächtlichen Belästigung in Arnstadt zeigt der Polizeieinsatz, nun ja, auffällige Unregelmäßigkeiten. Das eine Mal weigerte sich die Polizei anfänglich, den Mord als rechte Tat auszuweisen, im anderen Fall tauchte die Straftat nicht im Polizeibericht auf. Es scheint eine Kultur des Wegschauens zu existieren.

Es sieht nach Methode aus. In deutschen Sicherheitsbehörden werden wichtige Beweismittel geschreddert, um individuelles und behördliches Versagen zu tilgen. Zudem stattet der Verfassungsschutz in sehr großzügiger Weise V-Männer mit Steuergeldern aus. Ob das Geld letztlich für oder gegen den Rechtsextremismus ausgegeben wurde, ist nicht immer klar. Es deutet darauf hin, dass die 200.000 Mark, die der V-Mann Tino Brandt vom Thüringer Verfassungsschutz bekommen hat, eher in den Aufbau der rechten Szene geflossen sind, als in den Schutz davor.

Wir erinnern uns: Eigentlich sollte alles anders werden. Angekündigt hatte die CDU in Bund und Land - natürlich - den ganz großen Strauß: Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach, die NSU-Morde „schonungslos und lückenlos, unabhängig von Personen oder Instituten“ aufzuklären. Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht wandte sich an die Sicherheitsbehörden mit dem Satz "Wer nicht aufklärt, fliegt auf" und betonte, dass es keinen "parlamentarisch kontrollfreien Raum" geben dürfe. Angekündigt wurde nicht weniger als die komplette Neuordnung des Verfassungsschutzes.

Die Wahrheit ist: Es hat sich nichts geändert. Sogar die einleitenden Passagen des Thüringer Verfassungsschutzberichts 2012, den Innenminister Geibert vor einigen Tagen vorgelegt hat, sind unverändert, also wortgleich aus dem Vorjahresbericht herauskopiert worden – ganz so, als würde es die vielen neuen Erkenntnisse über das Versagen des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit den NSU-Morden nicht geben.

Dennoch feiert sich der Verfassungsschutz auch im neuen Thüringer Verfassungsschutzbericht. Von Selbstkritik und Selbstreflexion keine Spur. Der Verfassungsschutz tut so, als sei alles in Ordnung, als mache er weiterhin saubere Arbeit, und als verteidige er aufopferungsvoll und effektiv Rechtsstaat, Sicherheit, Demokratie und Freiheit. Einen inhaltlichen Neubeginn hat es nicht gegeben, eine personelle Wende schon gar nicht. Die Verfassungsschutzbehörden haben eine schallende Ohrfeige erhalten, mehr noch, einen K.O. Sie machen aber trotz des nun hinreichend dokumentierten Versagens einfach so weiter wie bisher, und das Thüringer Innenministerium schaut dabei zu.

Das Festhalten an alten Ritualen und Ideologien ist das bestimmende Merkmal des Thüringer Verfassungsschutzberichtes. Jörg Geibert hat ihn übrigens ohne ein ordentliches Verfahren vorgelegt, für das ich mich im Vorfeld stark gemacht hatte. Der für den Verfassungsschutz verantwortliche Innenminister hat den Bericht ohne Vorbereitung und ohne Zeit und Möglichkeit zur Durchsicht durch das Kabinett gepeitscht. Eine Aussprache dazu fand in der entsprechenden Kabinettsitzung jedenfalls nicht statt, weil Geibert den Bericht den Regierungsmitgliedern erst als Tischvorlage zugänglich gemacht hat. Im Protokoll wird lediglich lapidar darauf hingewiesen, dass der Verfassungsschutzbericht nun an die Ressorts verteilt werde. Eine politische Beratung sieht anders aus.

Im einleitenden Berichtsteil „Verfassungsschutz – Instrument der streitbaren Demokratie“ werden die Sicherheitsbehörden nach wie vor als „effektive Institutionen“ des Rechtsstaates bezeichnet, deren Markenzeichen es sei, „als ‚Frühwarnsystem’ politischen Extremisten entgegenzuwirken und die konstitutiven Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzusichern.“ Spätestens durch die NSU-Morde ist deutlich geworden, dass dieses Selbstbild der Verfassungsschutzbehörden rein gar nichts mit der Realität zu tun hat.

Die NSU-Morde sind den Verfassern des Berichts ohnehin nur eine Randbemerkung wert, von einer substanziellen Stellungnahme zu diesem beispiellosen Verbrechen oder Plänen, wie man eine solche Mordserie in Zukunft verhindern kann, ist nichts zu finden. Der Begriff NSU taucht im Bericht meist nur als Schlagwort auf. Für Weiterführendes wird, wie bereits und nahezu wortgleich im Verfassungsschutzbericht 2011, lediglich auf „die Erkenntnisse der verschiedenen Untersuchungsausschüsse und -kommissionen zum ‚Nationalsozialistischen Untergrund’ (NSU) im Hinblick auf die künftige Arbeitsweise und die gesetzlichen Rahmenbedingungen“ verwiesen, „um die geeigneten Maßnahmen zur Optimierung der Sicherheitsstrukturen in unserem Land und zur effektiveren Gestaltung der Kontrolle des Verfassungsschutzes zu treffen.“ Auch echter Wille zur Selbstreflexion sieht anders aus.

Dass gerade der NSU weiterhin Sympathien auf sich zieht, wie die Solidaritätsbekundungen gegenüber dem im NSU-Verfahren angeklagten Ralf Wohlleben zeigen, weiß der Verfassungsschutz zwar zu berichten, aber nicht einzuordnen. Eine differenzierte Analyse des Bedrohungspotenzials bleibt der Bericht jedenfalls schuldig.

Der Verfassungsschutzbericht ist aus vielen weiteren Gründen eine Frechheit. Er ist das Dokument einer ideologischen Verblendung, es dominiert darin das alte Denken, in dem Links und Rechts mir nichts dir nichts einfach gleichgesetzt werden. Der Bericht verharmlost systematisch den Zuwachs in der rechtsextremen Szene und bei faschistischen Gewalttaten. Dies freilich nicht, ohne dass der Verfassungsschutz sich und die anderen deutschen Sicherheitsorgane lobt. „Öffentliche Veranstaltungen“, so heißt es im Text, „verlaufen zumindest in Thüringen überwiegend störungsfrei, was sowohl auf die Auflagen der Ordnungsbehören als auch die oftmals massive Polizeipräsenz zurückzuführen ist.“

Rechtsextreme Straftaten gibt es nach Meinung der Verfassungsschützer kaum, und wenn doch, so handele es sich „vorwiegend um sog. Propagandadelikte“, oder aber sei es den „politischen Gegnern aus dem linksextremistischen Spektrum“ zuzuschreiben, dass es zu „gewalttätigen Auseinandersetzungen“ komme. Die Rechtsextremen in Thüringen sind in den Augen des Verfassungsschutzes also gewaltlos, während die Linken sie mit der Keule traktieren. Skandalös!

„Linksextrem“, das sind in der Logik der Verfassungsschützer im Übrigen ganz schnell alle noch so unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger, die sich an einer Aktion gegen rechte Ideologie oder Gewalt beteiligen, wie an der folgende Textstelle deutlich wird:

„Ihr Grundsatz [der der so genannten „linken Autonomen“, Anm. d. Verf.], dass sich die von ihnen angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen einzig durch den Einsatz revolutionärer Gewalt vollziehen lassen, wird aus taktischen Gründen oft verschwiegen. […] Die eigene extremistische Ausrichtung wird […] bewusst verschleiert. Mit dieser Taktik gelingt es Linksextremisten durchaus, auf bestimmten Politikfeldern Bündnispartner zu finden, die extremistischen Ansichten im Grunde genommen abgeneigt sind.“

Engagement gegen Rechts wird auf diese Weise kategorisch kriminalisiert. Die Bürgerinnen und Bürger, die sich in diesem Lande dem braunen Mob entgegenstellen, werden durch den Verfassungsschutz zu unmündigen und willfährigen Deppen gemacht, die sich von so genannten „Linksextremen“ vor den Karren spannen lassen. Ein unglaublicher Vorgang, der zum Beispiel auch auf mich zielt, weil ich regelmäßig gegen rechte Idioten auf die Straße gehe.

Der Verfassungsschutzbericht liest sich zudem stellenweise wie ein Marketingprospekt, verharmlosend speziell was die Bedrohung der Demokratie, Freiheit und Jugend in unserem Land durch Rechtsextreme angeht. Rechtsextreme Gruppierungen werden eher vorgestellt, als dass eine kritische Auseinandersetzung damit erfolgt. Auf diese Weise wird nicht über die menschenverachtende Ideologie oder das Gewaltpotenzial der Rechten aufgeklärt, sondern dem Unentschlossenen ein Menü vorgelegt, aus dem er sich das netteste Angebot aussuchen kann.

Die Verharmlosung des Rechtsextremismus im Bericht findet auf allen Ebenen statt. Der Zuwachs von satten zehn Prozent bei den Mitgliederzahlen der NPD und sogar 16,6 Prozent bei der Anzahl der Neonazis wird als deshalb als „leichte Konsolidierung der Thüringer NPD“ auf „niedrigem Niveau“ abgetan, ein „tatsächlicher Aufwärtstrend“ sei insofern „nicht erkennbar“.

Wie bitte? Jede demokratische Partei in Deutschland träumt von solchen Mitgliederzuwächsen. Auch absolut ist die aktuelle Zahl von 330 NPD-Mitgliedern plus 350 Neonazis und weiteren 280 „Subkulturell geprägten Rechtsextremisten“ nicht klein zu reden. Der Grundsatz muss doch lauten: Jedes Mitglied und jeder Sympathisant einer zuviel. Vor allem zeigt dies, dass der Verfassungsschutz die Parteienlandschaft nicht kennt. Fast 1.000 Rechtsextreme entsprechen der anderthalbfachen Mitgliederstärke der Grünen in Thüringen und ungefähr drei Viertel der Mitglieder der FDP. Angesichts dieser Zahlen von einem niedrigen Niveau zu sprechen, ist absurd und gefährlich.

Weitere Kennzahlen im Verfassungsschutzbericht verdeutlichen die rechte Dynamik im Lande. Die Zahl der rechtsextremen Straftaten ist mit 1.146 gezählten Taten um 9,9 Prozent gestiegen. Zudem werden politisch motivierte Straftaten in Thüringen zumeist von Rechten ausgeübt: etwa 80 Prozent gehen auf das Konto von Rechtsextremisten. Und auch bei rechtsextremen Konzerten gab es zuletzt einen Anstieg. Es würde sich nicht um den Verfassungsschutz handeln, wenn alle wichtigen Daten erhoben würden: Alte und neue rechtsextremistische Formen wie etwa die „Reichsbürger“, die „Identitären“-Bewegungen oder „Black Metal“-Bands werden durch den Bericht gar nicht erst erfasst. Auch hier zeigt sich der Verfassungsschutz als blind.

Ganz anders verhält es bei allem, was für den Thüringer Verfassungsschutz eine Form von „Linksextremismus“ darstellt. Obwohl es sich hier eher um eine virtuelle Gefahr handelt, wird Linksextremismus im Vergleich mit den Gefahren des Rechtsextremismus viel höher eingeschätzt wird. Wiederholt wird dem linken Spektrum ein erhöhtes Gewaltpotenzial unterstellt. Ganze zwei Male wird dem Leser der exakt gleiche Satz eingehämmert: „Gewalt ist ein selbstverständliches Aktionsmittel der Autonomen.“ Man muss sich fragen, warum das überhaupt im Verfassungsschutzbericht steht, räumt Innenminister Geibert auf Nachfrage doch ein, dass der so genannten „linken Gewalt“ keine herausragende Bedeutung zugemessen werden könne.

Die starke Gewichtung des Gewaltpotentials in der linken im Vergleich zur rechten Szene ist höchst irritierend. Um es klar zu sagen: Auch linke Gewalt ist nicht hinnehmbar. Im Verfassungsschutzbericht hat die Darstellung der linken Gewaltbereitschaft jedoch eine andere Funktion: Es soll ideologisch relativiert werden, Links gleich Rechts, alles irgendwie gleich. Das ist sowohl angesichts der deutschen Vergangenheit und Geschichte unsinnig, und entspricht auch nicht der empirischen Realität. Die Statistik zeigt nämlich etwas anderes: Im Jahr 2012 entfielen 10,8 Prozent der insgesamt in Thüringen erfassten politisch motivierten Straftaten auf den Phänomenbereich „Links“. Rund 80 Prozent aller politisch motivierten Straftaten sind, wie erwähnt, hingegen dem Phänomenbereich „Rechts“ zuzuordnen.

Es wird deutlich: Der Verfassungsschutzbericht bleibt sich treu, er ist auf dem rechten Auge blind. Aber genau das war einer der Gründe, dass so etwas wie der NSU überhaupt erst möglich wurde.

Wir alle sind vom Versagen des Verfassungsschutzes betroffen. Wie Rechtsterrorismus eine freie und gleiche Gesellschaft bedrohen kann, ist vor zwei Jahren in Norwegen deutlich geworden. Anders Breivik, zwischen 1997 und 2007 ideologisch geprägt durch die Konservativen und Rechtspopulisten der norwegischen Fremskrittspartiet, in dessen Jugendorganisation er aktiv war, hat damals auf der Insel Utöya Jagd auf jugendliche Anhänger der sozialdemokratischen norwegischen Regierungspartei gemacht. 69 Menschen wurden am 22. Juli 2011 durch Anders Breivik hingerichtet. Es handelt sich beim Täter um einen Anhänger einer Partei, die bei den nächsten Wahlen in Norwegen nach dem Ministerpräsidentenamt greift – ein weiteres Indiz dafür, dass rechtsextreme Tendenzen längst die Mitte der europäischen Gesellschaften erreicht hat.

Auch die Soldaten in Arnstadt stammen aus der Mitte der Gesellschaft, sind sogar Staatsdiener. Die Bedrohung von Sicherheit und Freiheit ist also näher als oft behauptet. Und was machen der Verfassungsschutz und das zuständige Innenministerium? Sie legen der Öffentlichkeit einen Bericht vor, ganz so als sei nichts passiert.

 

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